Worte (auf-)scheuchen – Grenzen überwinden.
SIMON GERHOL
Hundstagebuch der 100 Wörter
Zwischenspiel: Facebook-Posts 2017
01.08.2017
Warum ich anfange? Mein Scheiß interessiert sowieso niemanden?
Als ich in den 80ern und 90ern als neoliberaler Fungesellschaftskonsumspießer aufwuchs, meine Rebellenjahre verschwendete, hatte ich immer ein Grummeln im Bauch. Jeder Mensch will dazubehören, irgendwie fühlte ich mich ausgeschlossen, mochte ich nicht alles schlucken, bejahen, mitmachen, und zum Diskutieren waren die Allermeisten nicht in der Lage, war wohl in den falschen Zirkeln. Den Sirius kennen auch heute nicht viele.
Doch ab jetzt wird gefochten (ich vermeide bewusst das Wort mit k). Vielleicht helfen ja die Gedanken und Beobachtungen, mit der Distanz jener Bauchschmerzen eines Tages rückblickend besser zu verstehen, warum was geschah. Manchmal soll es sogar vorkommen, dass unsere Spezies dazulernt. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
02.08.2017 Die Blonde und der schwarze Hund
Es leben mehr als die Hälfte der Menschen alleine, Singlehaushalte eben. Eine Binsenweisheit, der Individualismus sei nur narzisstischer Konsumterror; der öffentliche Raum ist nicht tot, er virtualisiert. Meldungen der gleichen Woche: die Zeugungsfähigkeit westlicher Männer habe signifikant nachgelassen, ein nord-süd-europäisches Gefälle wie beim Alleineleben. Zusammenhang? Und da sag‘ noch einer, die Natur verstünde sich nicht zu wehren und bedürfe unserer Fürsorge! Auch das Klimaschutzziel von weniger als 1.5 Grad Erderwärmung bis 2100 ist aus heutiger Sicht nicht mehr zu erreichen. Braucht’s noch mehr Beweise?
Es mag selektive Wahrnehmung sein, heute Morgen sah ich drei verschiedene Blondinen mit je einem großen Hund spazieren gehen. Mittlerweile sind Hunde hygienischer zu halten als Männer, zumal diese ihre narzisstischen Kränkungen (wie ihrerseits die Frauen) in der Politik ausleben. So sieht man einen Spiegel im Großen wie im Kleinen: Überwindet das Individuum, speziell das ‘deutsche‘, nicht die Trägheit Langeweile mit etwas anderem als Kriegsspielen zu überwinden, werden wir das Spiel im Großen erleben. Schon Tucholsky konstatierte, der Kapitalismus sei stets die Ursache aller Kriege.
Beginnen wir im Kleinen zu fechten: Frau-Mann, Frau-Hund, Mann-Auto, …
03.08.2017 Schöne neue Dystoptien:
Erstmals sind erfolgreich Gene am menschlichen Embryo manipuliert worden: hurra! Designerbabies auf Bestellung ab sofort im Versandhandel.
Ein wesentliches Merkmal des Menschen, von intelligentem Leben, ist es, sich um Artgenossen zu kümmern. Langfristig wird diese Eigenschaft in der schönen neuen Welt nicht mehr von Nöten sein. Mangels Stimulanz in der Sozialisation wird sie wohl aussterben so rückt die Matrix wieder ein Stück näher.
30.08. 2017
Der Staat verteidigt sein Monopol aufs Abhören und verbietet vernetztes Spielzeug:
„Worauf es für jeden persönlich ankommt, ist nicht, dass wir in der Welt wirklich viel verändern, sondern dass wir uns ein Lebensgefühl schaffen, als täten wir es.“ H. Mann, der Untertan
Oktober 2017
Reisebericht
Ja, ich weiß, lange verstummt, war unterwegs ...
Über Leute, die ohne F... Anglizismen ... Kopfhörer telefonieren, regt man sich ja nicht mehr auf.
Dito nicht über die Vereinheitlichung der Bahnhöfe mit F... F.... mittels F...ing.
Nur dass die Buchläden auch immer ähnlicher werden, Buchketten Einzug feiern ... Kapitalismus eben.
Einer jener Kioske mit Buchabteilung: früher abgeteilte Regale für politische Magazine, Literatur, Kunst. Heute verdrängt von der Rubrik "Lifestyle Frauen" !!
Ganz ohne Sexismus: Hilfe! Fünf vor Zwölf! F...!
03.11.2017:
me too:
Die Aggression in der Welt wird zunehmen, da die sexuelle Frustration vieler Männer zunimmt, deren Gewaltventil zunehmend durchlässiger wird, je schneller das Patriarchat verschwindet.
Da diese Männer wegen ihrer Kompensationsmechanismen in entsprechenden Positionen sitzen, fällt uns das sofort auf, aber es handelt sich wegen der maskulinen Verdrängungsmechanismen eben gerade nicht um selektive Wahrnehmung.
P.S.: Wie sich wohl Bedienungen und Serviceangestellte etc. fühlen angesichts der Schauspielerdebatte?
21.11.2017
Session Replay: Besuchte Websites zeichnen Nutzerdaten zu Werbezwecken auf, das Phänomen grassiert. Diese Werbedaten werden (unverschlüsselt) weiter verkauft.
Als muss niemand mehr Big Data Firmen hacken, man greift die Profile im Vertrieb ab (diese Firmen werten jene Daten aus, um dem Umsatz/Absatz in die Höhe zu treiben und ihre Kunden für die Zukunft fit zu machen.)
Der Betrug mit Werbebots (vorgetäuschte Clicks und Bestellungen auf Werbeplattformen) hat Konjunktur.
Und Törö: Die USA wollen die Netzneutralität abschaffen: Damit ein jeder per Knopfdruck bequem die gewaltige Umverteilung des Verwesungskapitalismus unterstützen kann.
Dystopien sind außer Mode, insbesondere in der Literatur, wozu bräuchten wir sie auch noch?
Die virtuelle Existenz ist da, ein Schattenbild, ohne Licht!
15.03. 2018 Ankerzentren
Höre ein Gespräch am benachbarten Stehtisch.
»Man kann ja die AfD nicht mit den Nazis vergleichen.« Ich denke mir, warum? Aber die anderen am Tisch blieben bereits stumm. Sol ich mich einmischen, reicht die Zivilcourage schon? Man kann ja sagen: ›Die AfD ist schlimmer als die NSDAP, da Letztere ein eindeutiges Programm und nichts Verstecktes offerierte.‹ Das ist schließlich ein Vergleich. Oder man fragt: Was ist bei AfD und NSDAP gleich? Eine Ansammlung von Feiglingen! Auch ein zuverlässiger Vergleich, genauso wie ›was haben Afrika und Europa gemeinsam? Beide von Menschen besiedelt.« Schließlich hat ja niemand gedacht, die erste Antwort zur Gemeinsamkeit sei ›beides Schweine‹.
Warum habe ich nichts gesagt? Weil wir bereits in einer Welt leben, in der Schriftsteller (!) öffentlich sagen, sie bewundern den Parteichef der AfD? Möge der Turm einstürzen! Einen Mann bewundern, der gerne wieder stolz wäre auf die Leistungen (! Nicht ›Taten‹!!) der Wehrmacht?
Erneut salonfähig, die Toleranz gegenüber rechten Gesinnungen. Nach ein paar Bier sich mit dem Ellenbogen stupsen: ›Sei mal ehrlich, ist doch wirklich so, oder? Alles Wirtschaftsflüchtlinge!‹