Worte (auf-)scheuchen – Grenzen überwinden.
SIMON GERHOL
November 2018: Der Mann, der später lebte.
Als sein Chef ihn ansprach, dezent zur Seite nahm und ihm vorsichtig taxierend zu verstehen gab, die Krawatte sei vom letzten Jahr und im Schalterdienst nicht geeignet, auch wenn sie selbstverständlich von Geschmack zeuge, beschloss er, diesen Mode-Schnickschnack nicht mehr mitzumachen. Was er nicht bedacht hatte, und zugegebenermaßen war er wütend auf sich, betraf das Faktum, von nun an ohne direkten Kundenkontakt zu arbeiten. Am meisten störte ihn, dass der Abteilungsleiter ihm nur mitteilte: »Herr N., ihr Talent benötigen wir unbedingt in der Kreditorenabteilung. Vom nächsten Monatsersten dürfen Sie sich ihre Sporen dort verdienen.« Beide meinten, den Anflug eines süffisanten Lächelns beim Gegenüber zu erkennen, freute sich der Eine immerhin über die Erleichterung seiner Kleiderkasse. Es wurmte ihn an jenem Abend und zur Ablenkung ging er ins Kino. Den Film, den er seit Wochen zu sehen wünschte, war bereits abgesetzt und der gewählte Ersatz langweilte ihn. Besonders die Werbung für Kleidung vor Beginn des Hauptfilms verschlechterte seine Stimmung beträchtlich. Da beschloss er, nie mehr ins Kino zu gehen, nur noch ins Theater. Sterben würde er sowieso, was bedeutete, nie alle aktuellen Filme gesehen zu haben. Der Vorteil lag auf der Hand: Anstatt den Teil X einer endlosen Fortsetzungsreihe zwecks Ableben zu verpassen, pro Kinobesuch zwanzig Euro und mehr zu bezahlen, sah er in mehreren Tagen alle Folgen ohne Unterbrechung im Internet. Als er das Kino verließ, schneite es und die Schneeflocken zwangen ihn beim Gehen auf den Boden zu blicken. In den menschenleeren Straßen zeigten die noch sichtbaren Fußspuren alle mit der Schuhabdruckspitze gegen seine Laufrichtung. Zukünftig verwies er in Gesprächen nun darauf, jeweilige Filme erst in ein paar Jahren gesehen haben zu werden. Selbstredend berührte diese Entscheidung auch seine Einstellung zu Büchern. Auf Veranstaltungen wie Weihnachtsfeiern angesprochen, wie der den letzten Bestseller gefunden habe, konterte er mit erfundenen Neuerscheinungen. »Herr N., wie gefällt es Ihnen denn in der neuen Abteilung?« »Es ist … gemütlich unter uns gesagt.« »Da kann ich ihnen das neueste Buch empfehlen, der Roman der XX über die neue Rolle der Frau in der Gesellschaft, haben Sie den gelesen?« »Nein noch nicht, aber kennen die jüngst erschienene »Kritik des zynischen Neoliberalismus?« Folglich stand er bald meist alleine. In der zunehmenden Isolation beschloss er, auf Nachrichten und Zeitungen zu verzichten, da sich die Politik im Kreise drehte und lebte fortan in einer ruhigeren Welt. Er ging viel spazieren, beobachtete die Menschen, gebeugt über ihre Kleincomputertelefone. Da entschied er, aus der Stadt weg aufs Land zu ziehen, als man ihm einen Heimarbeitsplatzvertrag anbot. Die Ausgründung seiner Abteilung in ein eigenständiges Unternehmen erfuhr er per Email. Als jene Firma Insolvenz anmeldete, beeindruckte ihn die Einfachheit der elektronischen Arbeitslosenmeldung, welche jeglichen persönlichen Kontakt überflüssig versickern ließ. Mit seinem Ersparten, der Grundstock gebildet aus dem ehemaligen Kleidergeld und der Mietdifferenz zur Stadt, erwarb er in den Bergen ein Grundstück und lebte von nun an von der staatlichen Unterstützung, ernährte sich ansonsten autark. Einzig als sein Kofferradio ausfiel, kamen ihm unheilvolle Gedanken. Und tatsächlich bemerkte er das Versiegen des Golfstroms am Wetter, was ihn zwang, mehr zu Jagen und weniger anbauen zu können. Er wunderte sich noch über Rauchsäulen am Horizont und die Menschenströme im Tal gen Süden. Als die atomaren Verteilungskriege begannen und das Klima seiner Lebensweise zusetzte, verstarb er Jahre später zufrieden an den Folgen der radioaktiven Belastung seines Quellwassers.